Montag, 29. Dezember 2008

Aufgelesen (7)

"Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Humboldt griff nach dem Sextanten.
Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.
Es sei natürlich keine Geschichte über Blut und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zu einer Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf. Mit einer schnellen Bewegung packte er den Affen, der gerade versucht hatte, ihm die Schuhe zu öffnen, und steckte ihn in den Käfig. Der Kleine schrie, schnappte nach ihm, streckte die Zunge heraus, machte große Ohren und zeigte ihm sein Hinterteil."

Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt

Dienstag, 9. Dezember 2008

Aufgelesen (6)

"In demselben Jahr ... erblickte weit weg ... ein Knabe das Licht der Welt. Sein Name war RH Bing. Nein, das ist kein Druckfehler, es fehlen keine Punkte zwischen den Initialen. Das R und das H sind nicht die Initialen seiner Vornamen. Sie sind sein Vorname. Er wurde Arhaitch oder so ähnlich gerufen ... Natürlich führte der seltsame Vorname zu Verwirrung und Geschichten ohne Ende. So wird erzählt, daß Bing, als man ihn zum Professor an der Universität von Wisconsin ernannte, gefragt wurde, was auf dem Namenschild stehen solle. Seinem Vornamen treu, erwiderte er: 'R only, H only, Bing'. Als er zu seinem neuen Büro kam, fand er auf dem Namensschild neben der Tür die Inschrift 'Ronly Honly Bing'".

George S. Szpiro, Das Poincaré-Abenteuer

Donnerstag, 20. November 2008

Weise Worte (1)

"Von der deutschen Toilette geht keine Gefahr aus."

Franz Daschner, F.A.Z, 20.11.2008

Dienstag, 11. November 2008

Aufgelesen (5)

"There are sources of irrationality other than religious faith, of course, but none of them are celebrated for their role in shaping public policy. Supreme court justices are not in the habit of praising our nation for its reliance upon astrology, or for its wealth of UFO sightings, or for exemplifying the various reasoning biases that psychologists have found to be more or less endemic to our species."

Sam Harris, The End of Faith

Montag, 3. November 2008

Aufgelesen (4)

"'Es ist sonderbar. Weil man fälschlicherweise glaubt, der echte Nero habe Rom angezündet, muß jetzt zu Ehren dieses falschen Nero die Stadt Apamea ersaufen. Denn sonst hält die Welt unseren falschen Nero nicht für den echten.' - 'Ja', stimmte König Philipp zu, 'so krumme, aberwitzige Wege muß ein vernünftiger, gutwilliger Mensch gehen, wenn er Vernunft durchsetzen will. Humanität läßt sich auf diesem Erdkreis offenbar nur durch die dümmsten, niederträchtigsten Mittel beibringen.' Und fast körperlich spürten sie beide Ekel und Unmut über das Wahrhafte der menschlichen Natur, über die Gebrechlichkeit der menschlichen Vernunft."

Lion Feuchtwanger, Der falsche Nero

Mittwoch, 22. Oktober 2008

Aufgelesen (3)

"Er [Platon] faszinierte seine Landsleute, aber ging ihnen auch ebensosehr auf die Nerven. Als seine Lebensaufgabe bezeichnete er selbst die 'Menschenprüfung', das heißt: er ging überall herum und bewies den Leuten, daß sie alle miteinander nichts verstünden, und zwar ein jeder gerade in seinem Fach."

Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands

Dienstag, 14. Oktober 2008

Aufgelesen (2)

"Am allerwenigsten begriff der junge Mensch die diplomatische Bedeutung des Balletts. Mit Mühe zeigte ich ihm ... wie alle seine Tanztouren diplomatische Verhandlungen bedeuten, wie jede seiner Bewegungen eine politische Beziehung habe, so z.B. daß er unser Kabinett meint, wenn er sehnsüchtig vorgebeugt, mit den Händen weit ausgreift; daß er den Bundestag meint, wenn er sich hundertmal auf einem Fuße herumdreht, ohne vom Fleck zu kommen; daß er die kleinen Fürsten im Sinne hat, wenn er wie mit gebundenen Beinen herumtrippelt; daß er das europäische Gleichgewicht bezeichnet, wenn er wie ein Trunkener hin und her schwankt; daß er einen Kongreß andeutet, wenn er die gebogenen Arme knäuelartig ineinander verschlingt; und endlich, daß er unsern allzu großen Freund im Osten darstellt, wenn er in allmählicher Entfaltung sich in die Höhe hebt, in dieser Stellung lange ruht und plötzlich in die erschrecklichsten Sprünge ausbricht."

Heinrich Heine, Die Harzreise

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Aufgelesen (1)

"Ich sah dem Chef ins Gesicht und doch an seinem Gesicht vorbei nach draußen. Hinter ihm gab es ein großes Fenster, das den Blick auf eine belebte Straße freigab. In diesem Augenblick begann draußen ein Mann, ein neues Plakat auf eine Werbewand zu kleben. Es war ein riesiges buntes Plakat für eine neue Halbbitter-Schokolade. Es dauerte keine halbe Minute, dann war ich in das Wort halbbitter vertieft. Ich begriff, daß ich mich selbst in einer halbbitteren Situation befand."

Wilhelm Genazino, Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman